indische Philosophie

indische Philosophie
ịndische Philosophie,
 
das religiös-philosophische Denken Indiens, das sich in engem Zusammenhang mit religiösen Vorstellungen (v. a. des Hinduismus, Buddhismus, Jainismus), häufig in Form systematischer Lehrgebäude entwickelt. Zentrales Thema ist das Problem der Erlösung, dem Fragen der Ethik, Metaphysik, Kosmologie, Erkenntnistheorie und Logik beigeordnet sind. Eine Entsprechung für den abendländischen Terminus »Philosophie« fehlt in den indischen Sprachen.
 
Mit der Frage nach dem Tragend-Bleibenden (Atman, Brahman), dem gültigen Sinn des Daseins über das einzelne Leben hinaus, beginnt die indische Philosophie in der Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. Schon hier steht ein transzendentaler Denkansatz (er untersucht die innere Erfahrung und führt zu einer zur Mystik neigenden Philosophie) einem analytischen Denkansatz gegenüber, aus dem realistischen Formen einer Kategorienlehre, eines Materialismus und Skeptizismus (Carvalka, Lokayata) hervorgingen. - Im Wesentlichen lassen sich vier große Perioden unterscheiden: 1) Die Denkversuche der Frühzeit sind in den spätved. Texten, besonders in den Upanishaden (seit 800 v. Chr.) und im Epos (Mahabharata, mit der Bhagavadgita) aufgezeichnet; sie bestimmten weitgehend das Denken der Folgezeit. 2) Die klassischen Systeme des Buddhismus und Jainismus (Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. bis zum Ende des 1. Jahrtausends n. Chr.) entwickelten systematisch eine Lehre von den Erkenntnismitteln, suchten Welt und Dasein aus bestimmten Daseinsfaktoren zu erklären und die Befreiung des Menschen (Moksha) aus dem durch die Taten (Karma) verursachten Wesenskreislauf (Samsara) in ihrer Möglichkeit zu begründen. In der neueren indischen Philosophie werden sechs »orthodoxe«, die Autorität der Veden anerkennende Systeme (Darshanas) von den »nichtorthodoxen« Systemen wie Buddhismus, Jainismus und Materialismus unterschieden: der auf die Upanishaden zurückgehende Vedanta, ein Hauptvertreter wurde Shankara (8. Jahrhundert n. Chr.); die exegetische Mimamsa; die in der »Samkhyakarika« (um 400 n. Chr.) erstmals niedergelegte dualistische Lehre des Samkhya, die als systematische Grundlage für den Yoga angesehen wird, wie er in den Yogasutras (2. Jahrhundert v. Chr.?) philosophisch begründet wird; die Systeme des Vaisheshika mit seiner Kategorienlehre und des Nyaya mit seinen Leistungen auf dem Gebiet der Logik. 3) In der Zeit der theologischen Systeme (Ende des 1. Jahrtausends n. Chr. bis Anfang des 19. Jahrhunderts) blieb die analytisch-entmythologisierende Tendenz des Philosophierens zum Teil erhalten (z. B. Advaita-Vedanta), doch wurde auf brahmanisch-hinduistischer Seite nun die Mythologisierung von Weltbild und Daseinsverständnis nicht mehr aufgehoben, sondern begrifflich strukturiert. Damit kam es zur Bildung großer theologischer Systeme, von denen die indische Philosophie bis in die Gegenwart geprägt wird. So entstanden die Vedantasysteme, die dem Vishnuismus verpflichtet sind: der Vishishtadvaita-Vedanta Ramanujas (11. Jahrhundert), der einen relativierten Monismus lehrt, der dualistische Dvaita-Vedanta Madhvas (12. Jahrhundert) und der Shuddadvaita-Vedanta Vallabhas (15. Jahrhundert), der eine Position zwischen Shankara und Ramanuja vertritt, weiterhin die Systeme des Shaivadarshana und der Trikaschule Kaschmirs (bedeutendster Vertreter: Abhinavagupta, um 1000) sowie der Shaivasiddhanta Südindiens (Entstehungszeit etwa 13. Jahrhundert), die zum Shivaismus gehören. Aus der vorhergehenden Periode behielten besonders zwei Systeme ihre Bedeutung, die jedoch dem religiösen Daseinsverständnis der theologischen Systeme verpflichtet sind: der Advaita-Vedanta Shankaras und seiner Schule und der neu aufgegriffene Nyaya, der als »neue Logik« (Navya-Nyaya) zur entscheidenden Autorität wurde (Blütezeit etwa 13.-16. Jahrhundert). 4) Die Begegnung mit westlichen Ideen kennzeichnet den Beginn der modernen indischen Philosophie (19. Jahrhundert), die mit Philosophen wie R. M. Roy, Vivekananda, R. Tagore, S. Radhakrishnan, M. K. Gandhi, Sri Aurobindo und S. Dasgupta verbunden ist. Neben Versuchen der Synthese, z. B. in Form einer vergleichenden Philosophie und unter Einbezug von dem traditionellen indischen Denken fremden Ansätzen wie demjenigen der Geschichtlichkeit, bleibt die religiös-philosophische Tradition bis in die Gegenwart von tragender Bedeutung.
 
 
S. Dasgupta: History of Indian philosophy, 5 Bde. (Cambridge 1922-55, Nachdr. 1975);
 E. Frauwallner: Gesch. der i. P., 2 Bde. (1953-56);
 S. Radhakrishnan: I. P., 2 Bde. (a. d. Engl., 1956);
 K. H. Potter: The encyclopedia of Indian philosophies, 3 Bde. (Delhi 1974-81; Bd. 1 Neuausg. Princeton, N. J., 1983);
 H. Bechert u. G. von Simson: Einf. in die Indologie (1979);
 D. S. Ruegg: The literature of the Madhyamaka School of philosophy in India (Wiesbaden 1981);
 H. Zimmer: Philosophie u. Religion Indiens (a. d. Engl., 41983);
 H. von Glasenapp: Die Philosophie der Inder (41985);
 
I. P. u. europ. Rezeption, Beitrr. v. J. Schickel u. a. (1992).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Zeiterleben im interkulturellen Vergleich
 

Universal-Lexikon. 2012.

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